Elektronischer Fristenkalender – und die Vorlage der Handakten

Ist der Zugriff auf einen ausschließlich elektronisch geführten Fristenkalender wegen eines technischen Defekts einen ganzen Arbeitstag lang nicht möglich, kann es die Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts in Fristensachen verlangen, dass die dem Rechtsanwalt vorliegenden Handakten auf etwaige Fristabläufe hin kontrolliert werden.

Elektronischer Fristenkalender – und die Vorlage der Handakten

Nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip darf einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten versagt werden, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschweren[1]. Dies sah der Bundesgerichtshof im hier entschiedenen Fall jedoch nicht:

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt nach § 233 Satz 1 ZPO voraus, dass die Partei ohne ihr Verschulden gehindert war, die versäumte Frist einzuhalten. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt, weil nicht auszuschließen ist, dass an der Fristversäumung ursächlich eine schuldhafte Pflichtenverletzung der Prozessbevollmächtigten der Klägerin mitgewirkt hat; diese muss sich die Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Die Klägerin hat nicht dargetan, dass ihre Prozessbevollmächtigte das ihr Mögliche und Zumutbare zur Fristwahrung getan hat, als am 5.08.2013 der Zugriff auf den Fristenkalender aufgrund eines Computerdefekts nicht möglich war.

Nach gefestigter Rechtsprechung verlangt die Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts in Fristensachen zuverlässige Vorkehrungen, um den rechtzeitigen Ausgang fristwahrender Schriftsätze sicherzustellen. Zu den Aufgaben des Rechtsanwalts gehört es deshalb, durch entsprechende Organisation seines Büros dafür zu sorgen, dass die Fristen ordnungsgemäß eingetragen und beachtet werden. Der Anwalt hat sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Eintragung und Behandlung von Fristen auszuschließen[2]. Ein bestimmtes Verfahren ist insoweit zwar weder vorgeschrieben noch allgemein üblich. Auf welche Weise der Anwalt sicherstellt, dass die Eintragung im Fristenkalender und die Wiedervorlage der Handakten rechtzeitig erfolgen, steht ihm grundsätzlich frei[3]. Sämtliche organisatorischen Maßnahmen müssen aber so beschaffen sein, dass auch bei unerwarteten Störungen des Geschäftsablaufs, etwa durch Überlastung oder Erkrankung der zuständigen Angestellten, Verzögerungen der anwaltlichen Bearbeitung oder ähnliche Umstände, bei Anlegung eines äußersten Sorgfaltsmaßstabs die Einhaltung der anstehenden Frist gewährleistet ist[4].

Führt der Anwalt einen elektronischen Kalender, darf diese Organisation keine hinter der manuellen Führung zurückbleibende Überprüfungssicherheit bieten[5]. Das Gleiche gilt für die Handakte; wird diese allein elektronisch geführt, muss sie ihrem Inhalt nach der herkömmlich geführten entsprechen. Sie muss insbesondere zu Rechtsmittelfristen und deren Notierung ebenso wie diese verlässlich Auskunft geben können und darf keine geringere Überprüfungssicherheit bieten als ihr analoges Pendant[6].

Vorliegend war davon auszugehen, dass der sachbearbeitenden Rechtsanwältin die Handakte des vorliegenden Berufungsverfahrens aufgrund der auf den 29.07.2013 notierten Vorfrist an diesem Tag zur Bearbeitung vorgelegt wurde und es weder dargelegt noch glaubhaft gemacht ist, dass die Handakte von der sachbearbeitenden Rechtsanwältin nachfolgend wieder zur erneuten Wiedervorlage erst auf den 5.08.2013 wegverfügt wurde. Für die rechtliche Beurteilung im Rechtsbeschwerdeverfahren ist von diesen von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffenen Feststellungen auszugehen.

Bei dieser Sachlage hat das Berufungsgericht die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht der Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht überspannt, wenn es von der sachbearbeitenden Rechtsanwältin erwartet, dass die ihr vorliegenden – nicht alle, wie die Rechtsbeschwerde unterstellt – Handakten händisch auf etwaige Fristabläufe hin kontrolliert werden. Treten Störungen in der Organisation des Büros auf, die dazu führen können, dass die Pflichten des Anwalts bei der Fristenkontrolle nicht erfüllt werden, erhöhen sich seine Sorgfaltspflichten. Er muss sicherstellen, dass seine Angestellten ihre Aufgaben auch dann zuverlässig erfüllen, wenn das zur Fristenkontrolle eingerichtete System aufgrund eines Computerdefekts vorübergehend nicht zuverlässig funktioniert[7]. Die Durchsicht der vorgelegten Handakten drängt sich insbesondere deshalb auf, weil die Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist durch eine ausreichende Vorfrist sicherzustellen ist[8], so dass die Prozessbevollmächtigte der Klägerin damit rechnen musste, dass sich unter den ihr vorliegenden Handakten solche befinden, die ihr aufgrund der Vorfrist im Hinblick auf den bevorstehenden Ablauf der Berufungsbegründungsfrist vorgelegt worden sind. Dies gilt vorliegend erst recht, weil nach dem Wiedereinsetzungsvorbringen der Klägerin mit solchen Fristabläufen konkret zu rechnen gewesen ist.

Die Klägerin hat nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht dargelegt, dass ihrer Prozessbevollmächtigten die händische Durchsicht der ihr vorliegenden Handakten auf Fristabläufe tatsächlich nicht möglich gewesen wäre, sondern sie hat nur ohne die eine Beurteilung ermöglichende Substanz behauptet, es seien in der Kanzlei ihrer Prozessbevollmächtigten an jedem Tag „extrem viele“ Fristabläufe zu beachten und zu bearbeiten gewesen.

Danach kommt es nicht darauf an, ob das von der Rechtsbeschwerde in Bezug genommene Wiedereinsetzungsvorbringen den Anforderungen genügt, die im Falle eines auf einen vorübergehenden Computerabsturz gestützten Wiedereinsetzungsantrags an die substantiierter Darlegung der Art des Defekts und seiner Behebung zu stellen sind[9]. Denn das der Klägerin zuzurechnende Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten liegt nicht in dem Versuch der Beseitigung der Überspannungsschäden an dem Kanzleiserver.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 27. Januar 2015 – II ZB 23/13

  1. st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 04.11.2014 – VIII ZB 38/14, WM 2014, 2388 Rn. 6 mwN[]
  2. BGH, Beschluss vom 08.04.1997 – VI ZB 8/97, NJW 1997, 2120, 2121; Beschluss vom 13.07.2010 – VI ZB 1/10, NJW 2011, 151 Rn. 6[]
  3. BGH, Beschluss vom 13.07.2010 – VI ZB 1/10, NJW 2011, 151 Rn. 6 mwN[]
  4. BGH, Beschluss vom 22.06.2010 – VIII ZB 12/10, NJW 2010, 3305 Rn. 12; Beschluss vom 13.07.2010 – VI ZB 1/10, NJW 2011, 151 Rn. 6[]
  5. BGH, Beschluss vom 12.10.1998 – II ZB 11/98, NJW 1999, 582, 583; Beschluss vom 02.03.2000 – V ZB 1/00, NJW 2000, 1957; Beschluss vom 02.02.2010 – XI ZB 23/08 und – XI ZB 24/08, NJW 2010, 1363 Rn. 12; Beschluss vom 21.12 2010 – IX ZB 115/10, HFR 2011, 706 Rn. 9; Beschluss vom 27.03.2012 – II ZB 10/11, NJW-RR 2012, 745 Rn. 7; Beschluss vom 17.04.2012 – VI ZB 55/11, NJW-RR 2012, 1085 Rn. 8; Beschluss vom 04.11.2014 – VIII ZB 38/14, WM 2014, 2388 Rn. 10[]
  6. BGH, Beschluss vom 09.07.2014 – XII ZB 709/13, NJW 2014, 3102 Rn. 13[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 01.04.1965 – II ZB 11/64, VersR 1965, 596 f.; Beschluss vom 26.08.1999 – VII ZB 12/99, NJW 1999, 3783; Beschluss vom 15.09.2014 – II ZB 12/13 13; BFH, Beschluss vom 23.12 2005 – VI R 79/04, BFH/NV 2006, 787 Rn. 12; Beschluss vom 17.07.2006 – VII B 291/05, BFH/NV 2006, 1876 Rn. 7[]
  8. statt anderer Nachweise BGH, Beschluss vom 24.01.2012 – II ZB 3/11, NJW-RR 2012, 747 Rn. 9[]
  9. vgl. BGH, Beschluss vom 17.05.2004 – II ZB 22/03, NJW 2004, 2525 Rn. 8; BFH, Beschluss vom 23.12 2005 – VI R 79/04, BFH/NV 2006, 787 Rn. 14; Beschluss vom 17.07.2006 – VII B 291/05, BFH/NV 2006, 1876 Rn. 5[]